DFG-Forschergruppe Natur
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1. öffentliche Podiumsdiskussion "Politik und Natur I: Natur als Argument"

Veranstalter: DFG-Forschergruppe "Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike - Mittelalter - Frühe Neuzeit"

28.06.2018 um 18:00 Uhr

Ort: Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians-Universität München, Geschwister-Scholl-Platz 1, Hörsaal M 118.

Zeit: Donnerstag, 28. Juni 2018, 18 - 20 Uhr

Teilnehmer*innen: Lorraine Daston (Berlin), Marina Münkler (Dresden), Herfried Münkler (Berlin), Karl-Siegbert Rehberg (Dresden)

Moderation: Beate Kellner, Andreas Höfele (LMU)

Wenn von Politik und Natur die Rede ist, denkt man zunächst an die Frage, was 'die Politik' tun kann, tut oder zu tun versäumt, um die natürliche Umwelt des Menschen zu erhalten. Man denkt an Klimaschutz, Nachhaltigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen und die Bewahrung biologischer Artenvielfalt. Die Natur fungiert hier als ein Letztwert, dessen Sicherung oder Gefährdung den Beurteilungsmaßstab verantwortlichen politischen, gesellschaftlichen wie auch individuellen Handelns ("Kaffee nie aus Plastikbechern trinken!") bestimmt. Den Letztwert der Natur würden selbst Klimaschutzgegner nicht bestreiten; auch sie argumentieren nicht gegen die Natur, sondern gegen die Notwendigkeit, sie vor den Folgen der technisierten Zivilisation zu schützen.

Argumentiert wird aber nicht nur über Natur, sondern auch mit ihr. Das ergibt sich unmittelbar aus ihrem Letztwertcharakter. Wenn Natur etwas unbestritten Gutes ist, dann überträgt sich dieses Gute auf alles, was ihm subsumiert oder assoziiert werden kann, was 'natürlich', 'naturgegeben' oder 'naturgemäß' ist oder jedenfalls als solches behauptet wird. Und es ergibt sich umgekehrt, das schlecht sein muss, was als 'un-' oder 'widernatürlich' bezeichnet werden kann.

Allem Anschein nach erlebt das Argumentieren mit Natur in letzter Zeit eine Renaissance. Nach der um die Jahrtausendwende diagnostizierten 'Wiederkehr der Götter' (Friedrich Wilhelm Graf) tritt nun auch mit der Natur eine durch die Moderne überwunden geglaubte Berufungsinstanz auf den Plan, die mit deutlich gegenaufklärerischer Tendenz gegen den lange Zeit unangefochtenen liberalen Konsens westlicher Demokratien in Stellung gebracht wird. Im Namen der 'Natur' nationaler, ethnischer oder sexueller Identitäten vertritt dieser Trend eine anti-liberale, anti-globalistische Abgrenzungspolitik, die in den diversen Populismen weltweit hohe Zustimmung erzielt. Gegen den angeblichen Werte-Relativismus der Moderne beharrt er auf einer Konstanz des 'von Natur aus' Richtigen. Er betreibt eine 'Naturpolitik', die sich der etablierten Politik gegenüber als deren Anderes, als einzig glaubwürdige Alternative zum politischen Betrieb stilisiert.

Neben dieser politisch reaktionären Konjunktur der Natur sind aber auch progressiv-emanzipatorische Argumentationsmuster zu beobachten, etwa capability approach Amartya Sens, mit dem die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum sich ausdrücklich auf die aristotelischen Aussagen zur Natur des Menschen und politischen Anthropologie bezieht. Ganz ohne Rekurs auf letztlich naturrechtliche Positionen ist ein Argumentieren für die globale Verbindlichkeit und Durchsetzung von Menschenrechten kaum denkbar.

Was verschafft der Natur eigentlich heute ihre moralische Autorität in politischen Diskursen? Was macht sie noch immer – wie in der Vormoderne – zur Berufungsinstanz, wenn es darum geht, dem eigenen Standpunkt eine quasi-transzendente, die Kontingenz gesellschaftlich-politischer Gegebenheiten überschreitende Geltung zu sichern? Fehlt es Argumenten, die mit Natur operieren, aufgrund ihrer flexiblen Anwendbarkeit an "schlagende[r] Kraft" (Lorraine Daston), oder liegt in dieser Flexibilität auch eine Stärke, die ihre historische Verbreitung ebenso wie ihre gegenwärtige Renaissance erklären könnte?

 

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