DFG-Forschergruppe Natur
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TP 6: Homo perfectus – medizinische Utopien und Praktiken im Umgang mit der Natur

Prof. Dr. phil. Dr. rer. med. habil. Mariacarla Gadebusch Bondio

Projektmitarbeiter: Prof. Dr. Kay Peter Jankrift

Wissenschaftliche Hilfskraft: Katharina-Luise Link, M.A.

Im Mittelpunkt dieses Teilprojekts stehen Vorstellungen und Praktiken der Perfektionierung menschlicher Natur in der Frühen Neuzeit. Eng verbunden damit ist das sich wandelnde Bild des idealen Arztes vom medicus optimus zum medicus politicus. Beides findet nicht nur in medizinischen Schriften ihren Niederschlag, sondern auch in den literarischen Entwürfen eines idealen Staats. Dementsprechend sollen diese Textgattungen in ihren Wechselwirkungen untersucht werden. In der von hippokratisch-galenischen und arabischen Komponenten geprägten Medizin der frühen Neuzeit richten sich die Anstrengungen zur Verbesserung der natürlichen Ausstattung des Menschen auf die Erhaltung und Potenzierung der Gesundheit sowie auf die Verlängerung des Lebens. In der heterogenen Textgruppe, die sich an der Schwelle vom Mittelalter zum Humanismus herausbildet, wird die Überzeugung vertreten, dass eine geregelte, kontrollierte Lebensführung in Harmonie mit der Umwelt (sex res non naturales) zur Stärkung der natürlichen Anlage und Überwindung von Krankheiten führen kann. Im naturphilosophischen Kontext diskutierten Mediziner über die Auffassung des homo perfectus (Cardano 1545; Huarte 1575), komplementär wurden im medizinethischen Bereich Ideale eines optimus medicus erarbeitet (Siccus 1551; Miranda 1562; Enríquez 1595; de Castro 1606; Castelli, 1617, Settala 1659). Von der Antike bis in die frühe Neuzeit hinein gilt die Sorge um sich selbst als ein individuelles Anliegen, als eine von der Medizin suggerierte Form des geregelten Umgangs mit den Grenzen der menschlichen Natur. Den Gedanken einer über das individuelle Interesse hinaus orientierten ,Gesundheitsverantwortung’ haben weniger Mediziner als politisch denkende Autoren gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe vertreten. So erhält die Medizin in den politischen Entwürfen eines idealen Staates der Frühen Neuzeit neue, moralische und politische Dimensionen. Hier ist die Natur eine zentrale Größe, bezogen auf das Wesen des Menschen und auch auf seine äußere Lebensgrundlage. Eine ideale staatliche Ordnung kann nur erreicht werden, wenn sie im Einklang mit der Natur steht – doch Vorstellungen dieser Natur variieren, ebenso wie der Umgang mit der Natur, der daraus abgeleitet wird. Eine staatstragende Bedeutung gewinnt dabei die Medizin, mit deren Hilfe die menschliche Natur beeinflusst, kontrolliert und optimiert werden kann. In einem ersten Schritt sollen Vorstellungen des homo perfectus in ihrem genuin medizinischen, pragmatisch ausgerichteten Kontext ausgelotet werden. In einem zweiten Schritt werden Spuren dieser Vorstellungen in Entwürfen idealer Gesellschaftsformen identifiziert. Ziel des Projektes ist es damit, die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Medizin und Utopien herauszuarbeiten. Im Hinblick auf die gesamte Forschergruppe ergibt sich ein zweifacher Beitrag: Literarisch-politische Naturentwürfe werden mit den durch die frühneuzeitliche Medizin propagierten Praktiken zur Perfektionierung der menschlichen Natur verknüpft. Zudem eröffnet der medizinhistorische Blick auf Perfektionierungsbestrebungen den Zugang zu Diskussionen, deren kultureller und medizinethischer Ertrag heute als höchst brisant empfunden wird.